„Die Begleitung auf dem Weg der Veränderung muss Schritt für Schritt erfolgen“

Im Juni 2020 wurde in Deutschland das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen erlassen, welches die Unterdrückung oder Umkehrung der Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung bei Minderjährigkeit und einer Unfähigkeit zur gültigen Einwilligung verbietet. Der Diplom-Psychologe Dr. Andreas Rose ist seit über 30 Jahren u. a. in der Sexualtherapie tätig und spricht im Interview über seine Arbeit und die Implikationen des Gesetzes.

Was versteht man unter „Konversionstherapie“?

Aus meiner Sicht sind Konversionstherapien etwas Historisches. Vor vielen Jahren entwickelten sich in der Verhaltenstherapie die sogenannten „Aversionstherapien“, mit denen man Menschen, die in ihrer Sexualität von der Norm abwichen, heilen wollte. Die Idee war es, deren sexuelle Fantasien durch Konditionierung mit aversiven Reizen zu koppeln, in der Annahme, dass durch Bestrafung die Fantasien als negativ empfunden und abgelegt würden.

Politisch oder religiös blieb es lange bei der Sichtweise, dass man Menschen mit homosexuellen Fantasien oder Neigungen behandeln müsse. Dies geschah meines Wissens aber nicht mit aversiven Reizen, sondern eher kognitiv und affektiv, indem man z. B. gläubigen Menschen vorwarf, kein gottgefälliges Leben zu führen, wenn sie nicht „normal“, d. h. heterosexuell, würden. Das war für gläubige Menschen natürlich eine enorme Belastung.

Zu welchen Ergebnissen führten derartige Therapien?

Es gibt Berichte aus den USA, denen zufolge homosexuelle Menschen „geheilt“ worden seien. Wahrscheinlich wurden sie mit religiösen Gebeten behandelt, sicherlich spielten auch intensive emotionale Gruppenerfahrungen eine Rolle. In solchen Gruppen entsteht ein enormer sozialer Druck, sich „heilen“ zu lassen, denn eine „unheilbare Homosexualität“ könnte zum Statusverlust oder zum Ausschluss aus der Gruppe führen. Auch den Eltern zuliebe möchten manche Menschen ihre Homosexualität ablegen, wenn diesen z. B. in ihrer Religionsgemeinschaft ständig vorgeworfen wird, ihr Kind falsch erzogen zu haben. Da wirken sehr viele sozialpsychologische Faktoren zusammen. Und natürlich ist es bei Menschen aus Ländern, in denen bis heute auf Homosexualität die Todesstrafe steht, nachvollziehbar, dass sie versuchen, ihre Homosexualität abzulegen, oder vorgeben, dies getan zu haben.

Aus wissenschaftlicher Sicht waren die Behandlungsversuche allerdings nie nachhaltig. Natürlich sind Veränderungen denkbar, etwa wenn jemand nicht homo-, sondern bisexuell ist. Auch können Berichte über „Behandlungserfolge“ dadurch zustande kommen, dass Menschen mit einer destruktiven Sexualität, z. B. sexsüchtigem Verhalten, behandelt wurden. In diesen Fällen wäre ein Therapieerfolg darin zu sehen, dass das destruktive Verhalten nachlässt, was man mitunter als allgemeine „Heilung“ der Homosexualität generalisiert hat.

Homo- und Transsexualität sind lange Zeit pathologisiert worden. Wie verträgt sich das Ziel einer Entpathologisierung damit, dass die Geschlechtsdysphorie im DSM-5 als psychische Störung aufgeführt wird?

Natürlich sind Bestrebungen zur Entpathologisierung nachvollziehbar. Doch es ist notwendig, z. B. Transsexualismus als Störung erfassen zu können, wenn daraus eine Geschlechtsumwandlung abgeleitet werden soll. Ohne die Klassifikation als Krankheit würden Eingriffe zur Geschlechtsumwandlung als „kosmetisch“ eingestuft und nicht von der Krankenkasse erstattet. Hier muss man pragmatisch denken, weil es sich um teure Operationen im mindestens fünfstelligen Bereich handelt, gerade bei der Umwandlung „Frau zu Mann“. Die Forderung nach einer Entpathologisierung kann also, salopp gesagt, auch nach hinten losgehen.

Das Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen bezieht sich gleichermaßen auf Homo- wie auf Transsexualität, wobei es in den Konsequenzen für die Betroffenen gravierende Unterschiede gibt.

Ja, die Unterschiede mit Blick auf die Konsequenzen für die Betroffenen sind gewaltig. Ob jemand homosexuell leben will oder nicht, hat sozialpsychologische Bedeutung. Ob jemand transsexuell leben will, hat hingegen auch eine medizinische Dimension, und zwar auf lange Sicht und teilweise irreversibel. Daher müssen wir dafür Sorge tragen, dass Betroffene eine sichere Entscheidung treffen. Ich beschäftigte mich mit diesem Thema seit weit über 30 Jahren und kenne Fälle, bei denen Operationen nicht der richtige Weg waren oder zu katastrophalen Ergebnissen führten. Die medizinischen Eingriffe, also Operationen und lebenslange Hormonbehandlungen, bringen bei der Frage, ob man als Mann oder Frau leben möchte, eine ganz andere Dynamik ins Spiel, als es bei der Homosexualität der Fall ist. Wenn man aufgrund biologischer Grenzen nicht so leben kann, wie man es sich wünscht, hat das eine andere Qualität.

Wie bewerten Sie die Verabschiedung des Gesetzes zum Schutz vor Konversionsbehandlungen?

In seiner jetzigen Form wäre das Gesetz für unsere Berufsgruppe nicht zwingend erforderlich, weil unsere Berufsordnung bereits Konkretes vorgibt: Paragraf 3 zu „allgemeinen Berufspflichten“ schreibt z. B. vor, dass die Autonomie der Patientinnen und Patienten zu respektieren, Schaden zu vermeiden und deren Würde zu achten sei – unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung. Wenn Patientinnen und Patienten einen bestimmten Leidensdruck haben, ist es natürlich meine Aufgabe, auf Grundlage der Berufsordnung darauf einzugehen und zu versuchen, den Konflikt herauszuarbeiten.

Das Gesetz als solches ist vor allem sinnvoll, weil es Kreise oder Personen gibt, die auch Heilkunde betreiben und nicht über denselben professionellen Sachverstand oder eine entsprechende Berufsordnung verfügen wie Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Für unseren Berufsstand wären Konversionsbehandlungen, wie sie das Gesetz verbietet, ohnehin gegen jegliche Berufsethik, und das war schon immer so.

Das Gesetz verändert also Ihre berufliche Praxis gar nicht?

Nein, überhaupt nicht. Die Frage der Konversionsbehandlung hat sich in meinem ganzen Berufsleben noch nie gestellt, und die Berufsordnung hätte sie ohnehin nie erlaubt. Das Gesetz verbietet im Kern Aversionstherapien, wie ich sie eingangs geschildert habe: Therapien, in denen mit aversiven Techniken, mit Schuldzuschreibungen, mit schlechtem Gewissen gegen sexuelle Neigungen vorgegangen wird. Aber das würde keine ausgebildete Psychotherapeutin bzw. kein ausgebildeter Psychotherapeut tun.

Das Gesetz untersagt ebenfalls das Werben für Konversionstherapien. Wird es dadurch für Betroffene schwieriger, Hilfe zu bekommen, z. B. im Falle einer Transsexualität?

Aus der Praxis kommend sehe ich da kein Risiko. Beim Thema „sexuelle Orientierung“ ohnehin nicht, aber auch bei den Themen „Transsexualismus“ oder „Geschlechtsinkongruenz“ nicht. Denn die praktizierten psychotherapeutischen Verfahren haben nichts mit der Konversionstherapie im klassischen Sinne gemein, wenn man Berufsordnung und Berufsethik berücksichtigt.

Wäre denn überhaupt so etwas wie eine Konversionsbehandlung möglich, wenn die Patientin bzw. der Patient volljährig ist und selbst zugestimmt hat?

Diese Frage kommt eigentlich nicht auf, weil es – das ist meine Erfahrung in all den Jahren – den Betroffenen nicht um die Unterdrückung ihrer Neigung geht, sondern darum, den Leidensdruck zu reduzieren und einen gesunden Umgang damit zu finden. Mir persönlich ist es noch nie untergekommen, dass ein Mensch seine Homosexualität loswerden wollte. Das Leid entsteht vielmehr dadurch, dass Betroffene nicht so leben können, wie sie möchten. Kompliziert wird es, wenn sie schon verheiratet sind, in einer Partnerschaft leben oder Kinder haben. Dann geht es auch darum, dass die Angehörigen nicht leiden sollen.

Gleiches gilt beim Transsexualismus: Der Rekord, den ich erlebt habe, war ein Mann mit sieben Kindern. Heute begutachte ich dagegen oft Jugendliche ab zwölf Jahren. Da hat sich in unserer Gesellschaft, was den Umgang mit der Thematik anbelangt, schon viel verändert.

Selbst wenn jemand in die Therapie käme, um seine Neigung zu verändern, würde man zunächst die Beweggründe abklären. Es sind meistens äußere Umstände, die jemanden verzweifeln und nach einer Konversion verlangen lassen. Indem man jene herausarbeitet, kann die Therapie dabei helfen, den Leidensdruck zu reduzieren und einen konstruktiven Umgang zu finden. Wenn jemand, wie eingangs erwähnt, aus einem Land kommt, in dem auf Homosexualität die Todesstrafe steht, und dorthin zurückgehen will, dann ist so ein Anliegen sicher noch einmal anders zu bewerten als bei einer Person, die aus Deutschland kommt. Ganz allgemein gilt, dass man in solchen Fällen entsprechend der Berufsordnung vorgehen und alle Behandlungsschritte ordentlich dokumentieren sollte.

Warum ist ein so komplexer Prozess notwendig, bis die Diagnose der Geschlechtsdysphorie gestellt werden kann?

Ich mache seit vielen Jahren Begutachtungen, und mir kommen immer wieder Fälle unter, bei denen sich im Nachhinein herausstellt, dass es gar nicht um eine Geschlechtsdysphorie ging. Deswegen braucht man im Vorfeld klare diagnostische Kriterien, auch um andere Störungen auszuschließen. Die ICD-10 führt u. a. die Diagnosen „Transsexualismus“ und „Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen“ auf. Außerdem gibt es die Differenzierung des fetischistischen Transvestitismus, bei dem sich Menschen sexuell daran erregen, dass sie die Kleidung des anderen Geschlechts tragen. Dies ist eine wichtige Differenzialdiagnose, weil die Ursachen beleuchtet werden: Geht es wirklich um die Geschlechtsidentität oder vielmehr um sexuelle Erregung, wenn sich etwa ein Mann wie eine Frau kleidet? Außerdem gibt es die sogenannten „Non-Binären“, die sich bewusst gegen eine Operation entscheiden, weil sie das Recht haben wollen, als Mann, als Frau oder in einer Zwischenform zu leben.

Diese zahllosen Möglichkeiten, wie sich Betroffene entscheiden können, verlangen von der Therapeutin bzw. vom Therapeuten Toleranz und Distanz, denn nur dann können diese die Anliegen und Bedürfnisse der Patientin bzw. des Patienten erkennen. Es gilt, Professionalität zu wahren und die Diagnose zu sichern, weil es fatal wäre, wenn man jemanden irrtümlich hormonell behandelt. Manche Menschen sind sich seit dem sechsten Lebensjahr sicher, dass sie im falschen Körper leben, aber es gibt auch späte Verläufe, bei denen sich die Geschlechtsinkongruenz erst im Laufe der Adoleszenz entwickelt. Die Begleitung auf dem Weg der Veränderung muss Schritt für Schritt erfolgen, um sicherzustellen, ob die Patientin bzw. der Patient auf dem richtigen Weg ist oder nicht, und damit sich die Betroffenen in ihrer Entscheidung klarer werden können.

Welche Schritte muss jemand durchlaufen, der für sich sehr klar spürt, dass er im falschen Körper ist?

Die Aussage: „Ich stecke im falschen Körper“, wäre auf jeden Fall zu wenig. Natürlich kann man argumentieren, es sollten doch alle mit ihrem Körper tun können, was sie möchten. Aber Transsexualismus ist eine komplexe Angelegenheit – nicht weil sich der Vorname und der Personenstand ändern, sondern weil so viele medizinische Eingriffe stattfinden, die langfristige Folgen haben. In der Praxis ist es in Deutschland unmöglich, dass Chirurginnen und Chirurgen einfach einen Menschen um-operieren. Auch sie möchten sich absichern – in der Regel durch eine klar gestellte Operationsindikation durch die Psychotherapeutin bzw. den Psychotherapeuten.

Wie sichert man die Diagnose der Geschlechtsdysphorie?

Man muss natürlich eine gründliche Sexualanamnese erheben. Entscheidend ist mitunter, in welcher Rolle sich die Betroffenen in ihren sexuellen Fantasien wahrnehmen. Auch sehr entscheidend ist, wann die ersten Empfindungen aufgetreten sind: bereits im Vorschulalter oder erst im Laufe der Adoleszenz? Ein bedeutsamer Prädiktor für eine wahrscheinlich zutreffende Diagnose ist ein spezielles Schamgefühl bei den Betroffenen zu Beginn der Pubertät, und zwar im Schwimm- und Turnunterricht. Sie schämen sich so, dass sie sich nicht mit Gleichaltrigen des gleichen Geschlechts in der Umkleidekabine umziehen können. Diese Scham muss nicht zwingend vorliegen, aber wenn sie da ist, spricht das für die Ernsthaftigkeit dieser Störung der Geschlechtsidentität. Ebenfalls häufig zu beobachten ist, vor allem bei „Frau-zu-Mann“, dass es in der partnerschaftlichen Sexualität als extrem belastend empfunden wird, vom Partner oder von der Partnerin beispielsweise an der Brust berührt zu werden, weil eine so starke Ablehnung gegen diese weiblichen Geschlechtsattribute besteht.

Wie lange dauert der Prozess, bei dem festgestellt werden soll, ob der Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung wirklich grundlegend ist?

Es gibt keine obligatorischen Vorgaben, aber Orientierung boten früher die sogenannten „Standards of Care“. Man war sich einig – auch im Sinne der diagnostischen Absicherung –, dass dieser Prozess eine gewisse Zeit braucht, mindestens zwölf Monate zum Beispiel. Die Anamnese ist wesentlich, und im Transsexuellengesetz gibt es sogar einen definierten Zeitraum: mindestens drei Jahre. So lange müssen Betroffene mindestens den Wunsch verspüren, mit dem entgegengesetzten Geschlecht zu leben. Erst dann ist die Änderung des Personenstandes erlaubt.

Manchmal kann es aber durch diese Festlegung des Zeitraums von drei Jahren kompliziert werden: Zum Beispiel habe ich einst einen Mann vor Gericht begutachtet, bei dem meines Erachtens ein Mann-zu-Frau-Transsexualismus vorlag. Allerdings stellte das zuständige Gericht fest, dass der Betroffene im Verlauf der drei Jahre als Mann ein Kind gezeugt hatte, und kam zu dem Schluss, dass er also keine Frau sein könne. Auch haben wir in anderen Ländern manchmal die Situation, dass Frau-zu-Mann-Transsexuelle plötzlich schwanger werden, wobei man sich natürlich fragt, wie das zu bewerten sei.

Welche Rolle würden Sie allgemein dem sozialen Umfeld zuschreiben?

Es wird immer wieder diskutiert, ob der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsinkongruenz eine psychische Störung zugrunde liegt. Das kann der Fall sein, das kann man aber auch ausschließen.

Nach meiner Erfahrung sind die familiären Verhältnisse wesentlich, in denen jemand aufwächst: Menschen aus unterstützenden, wertschätzenden familiären Strukturen können meist gut und konstruktiv damit umgehen, wenn sie bei sich homo- oder transsexuelle Züge erkennen. Menschen jedoch, die sich von ihrem familiären Umfeld abgelehnt fühlen und ihre Bedürfnisse nicht mitteilen können und die zusätzlich spüren, dass sie nicht „normal“ sind, was die Orientierung oder die geschlechtliche Identität betrifft, können daran verzweifeln. Die Folgen können, speziell beim Transsexualismus, selbstverletzendes Verhalten, Suchterkrankungen oder sexsüchtige Verhaltensweisen sein.

Schlechte Bindungsbedingungen und soziale Ausgrenzung erhöhen demnach die Belastung von Menschen mit einer differenten Sexualität enorm und können die Entwicklung pathologischer Symptome begünstigen, die wiederum psychotherapeutische Hilfe und Unterstützung erforderlich machen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Gespräch führte Isabelle Bock.

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