COVID-19 Snapshot Monitoring: "Präventionsmaßnahmen werden nicht selten Opfer ihres Erfolgs"
Das Gespräch führte Susanne Koch
Der Psychologe Philipp Schmid ist an der Auswertung „COVID-19 Snapshot Monitorings“ beteiligt. Im Interview spricht er über erste Ergebnisse, aber auch sein anderes weiteres Forschungsgebiet: Impfskepsis, Wissenschaftsleugnung und Verschwörungstheorien.
Was ist das Ziel des „COVID-19 Snapshot Monitorings“ (COSMO)?
Unser Ziel ist es, wiederholt Einblick zu erhalten, wie die Bevölkerung die Corona-Pandemie wahrnimmt und wie sich die psychologische Lage entwickelt. Das soll u. a. dabei helfen, Kommunikationsstrategien zu entwickeln und Falschinformationen und Aktionismus vorzubeugen. Dafür haben wir in einer seriellen Querschnittstudie seit Anfang März jede Woche bis zu 1.000 Personen befragt: zu Themen wie Risikowahrnehmung, Wissen, aber auch Sorgen und Emotionen.
Was sind die bisher zentralen Ergebnisse?
In dieser Pandemie-Situation wird noch einmal deutlich, dass Information alleine nicht ausreicht: Obwohl die meisten Menschen in Deutschland offenbar gut über das Corona-Virus informiert sind und auch darüber, wie man sich im Alltag schützen kann, führt das nicht zwangsläufig dazu, dass sie das korrekte Verhalten zeigen. So wissen z. B. 89 Prozent der Menschen, dass sie bei Krankheitssymptomen in Quarantäne bleiben sollten, aber nur 63 Prozent tun das tatsächlich. Das hat zum einen mit Prioritäten zu tun, die wir auch bei banalen Alltagshandlungen setzen: Wenn wir z. B. einkaufen gehen, denken wir zuerst an unseren Einkaufszettel, an das Müsli, das wir auf keinen Fall vergessen dürfen, und vielleicht den Pfandbon in unserer Tasche. Das Tragen einer Maske rückt – obwohl wir wissen, dass es wichtig ist – dadurch in den Hintergrund, was dazu führen kann, dass wir es unter Umständen vergessen. Zum anderen ist es generell schwierig, Gewohnheiten zu durchbrechen und neues Verhalten zu etablieren. Wir sind es nun einmal nicht gewohnt, beim Einkaufen eine Maske zu tragen oder auf Abstand zu gehen.
Was ist zu tun, um Menschen diesbezüglich zu helfen?
Denkbar wäre der Ansatz des Nudgings, indem wir also die Entscheidungsumgebung einer Person so verändern, dass sie tun kann, was sie eigentlich auch tun will. Ich hatte z. B. am Anfang Probleme damit, beim Einkaufen zwei Meter Abstand zu halten, allein vom Schätzen her: Wie viel sind denn zwei Meter? Oder ich wollte nur schnell an das Regal, vor dem jemand anderes gerade nicht fertig wurde … In solchen Fällen hilft das Aufzeichnen von Abständen auf dem Boden des Marktes. Das ist ein einfacher visueller Reiz, der hilft, sich an die Regel zu erinnern und sie korrekt umzusetzen. Ebenso kann man mit Informationen nudgen, etwa durch das Kommunizieren der sozialen Norm. Unsere neueste Umfrage hat z. B. gezeigt, dass 82 Prozent der Befragten im Alltag eine Maske tragen. Eine solche normative Information kann als eine Art einfache Heuristik die Entscheidungsfindung erleichtern. Sie vermittelt einen gewissen sozialen Druck, und sie erleichtert das Abwägen: Wenn das so viele machen, scheint es ja sinnvoll zu sein! Zudem kann das Wissen um so eine Norm unterstützend wirken: Wenn mir z. B. in einen Laden zwei Leute ohne Maske entgegenkommen, möchte ich nicht der Außenseiter sein, der eine trägt. Wenn ich aber weiß, dass sich eigentlich die Mehrheit an die Regel hält, dass also diese beiden die Ausnahme sind, gehe ich selbstbewusster mit meiner Maske durch den Laden – und setze damit auch wieder ein Zeichen.
Gab es Ergebnisse, die Sie beunruhigt haben?
Im Gegenteil: Es hat mich beruhigt, dass die meisten Befragten den Eindruck haben, dass die Menschen in ihrem Umfeld zusammenhalten. Obwohl wir uns also zunehmend abgekapselt haben, ist das Gemeinschaftsgefühl erhalten geblieben. Korrekterweise sollten wir also von „physical distancing“ sprechen, nicht von „social distancing“. Des Weiteren wird in unseren Befragungen die Aussage, dass Menschen nichts tun können, um die Lage positiv zu beeinflussen, eher abgelehnt. Das heißt, die Befragten empfinden weiterhin Selbstwirksamkeit und haben das Gefühl, mit den Maßnahmen etwas zu bewirken. Ich denke, da können wir viel über globale Probleme allgemein lernen: Auch die Maßnahmen gegen den Klimawandel hängen ja davon ab, dass die Menschen überzeugt sind, mit ihrem Verhalten etwas ändern zu können und als globale Community zu agieren. In dieser Pandemie sehen wir, dass das möglich ist: In der Gemeinschaft können wir auch große Probleme lösen.
Nun sind die derzeitigen Gefahren und Ängste viel näher an uns dran, als es etwa bei den Auswirkungen des Klimawandels der Fall ist.
Da gebe ich Ihnen recht: Die Konkretheit des Ereignisses ist sehr entscheidend, und die globale Erwärmung ist individuell nicht wirklich spürbar für die Menschen – außer dass der Sommer immer schöner wird. Leider ist es auch so, dass Präventionsmaßnahmen nicht selten Opfer ihres Erfolgs werden. Wenn sie sehr gut funktionieren – so wie die Corona-Maßnahmen bei uns –, sieht man die Gefahr, das mögliche Leid ja nicht, und es scheint keinen Grund mehr zu geben, die Maßnahmen aufrechtzuerhalten. Das ist ein Problem, das wir aus dem Bereich der Impfskepsis kennen.
Sie forschen an der Universität Erfurt zu Impfskepsis. Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen Impfablehnung und den Verschwörungstheorien, die sich derzeit rund um die Verbreitung des Corona-Virus ranken?
Anscheinend gibt es Überschneidungen zwischen den jeweiligen Personengruppen. Wir sehen da viele Ähnlichkeiten, egal, ob es um Verschwörungstheorien, Impfskepsis oder das Leugnen des Klimawandels oder der Evolution geht – nicht unbedingt bei den Menschen, aber bezüglich der Rhetorik und in den verfolgten Zielen. Eine britische Studie von Karen Douglas et al. (2012) zeigt, dass Personen, die denken, dass Lady Diana noch lebt, auch eher glauben, dass sie ermordet wurde.
Wie bitte?
Das klingt paradox, ergibt aber Sinn, wenn man sich überlegt, was dahintersteht: das übergeordnete Ziel, gegen die etablierte Meinung zu sein, gegen die offizielle Version. Und warum? Da gibt es unterschiedliche Motive. Bestimmte politische Strömungen versuchen, etablierte Säulen der Gesellschaft und damit das Vertrauen zu erschüttern und sich damit einen politischen Vorteil zu schaffen. Nicht zuletzt hat US-Präsident Trump während seines Wahlkampfes gegen das Impfen gewettert und setzt dieses Verhalten im Leugnen des Klimawandels fort. Auch finanzielle Interessen spielen eine Rolle, denn mit den Sorgen der Menschen lässt sich Geld verdienen, etwa durch Buchverkäufe, Kurse, Coachings usw. Zudem gibt es psychologische Motive, die diese Gruppen verbinden: Z. B. hängt der Glaube an Verschwörungstheorien mit gesteigerten Narzissmuswerten zusammen. Das drückt sich darin aus, dass diese Personen immer diejenigen sein wollen, die mehr wissen als die anderen, die hinter den Vorhang schauen und die größeren Zusammenhänge sehen.
Ich kann mir vorstellen, dass es extrem viel Gegenwind bedeutet, einer randständigen, vielleicht irrationalen Theorie anzuhängen.
Das kommt darauf an. Meistens schaffen sich diese Personen in einem Bereich – offline oder online – eine gewisse Echokammer, in der sie gehört und bestätigt werden. Das ist eine ständige Inzucht der eigenen Überzeugungen. Es ist aber auch so, dass Nonkonformität zum Selbstbild gehört. Das kennt ja eigentlich jeder: diesen einen Onkel, der immer gegen alles ist und alles besser weiß.
Davon hab ich mehrere.
Ich auch (lacht).
Nun ist ja nicht alles, was dieser Onkel sagt, gleich eine Verschwörungstheorie. Wie würden Sie diesen Begriff definieren?
Laut Karen Douglas sind Verschwörungstheorien Versuche, die Ursachen bedeutender sozialer und politischer Ereignisse und Umstände mit Behauptungen über geheime Handlungen von zwei oder mehr mächtigen Akteuren zu erklären. Sie werden oft mit Regierungen assoziiert, können aber jede Gruppe beschuldigen, die als mächtig oder bösartig wahrgenommen wird. Für eine Verschwörungstheorie braucht es also ein paar Rezeptanteile: Es müssen zwei oder mehr Leute involviert sein, es geht um ein soziales oder politisches Großereignis und um mächtige Akteure. Nicht gesagt ist, ob die Theorien wahr oder falsch sind. Auch wenn sie in der Regel sehr unwahrscheinlich sind, werden wir es zum Teil nie mit letzter Sicherheit wissen.
Oft gibt es aber doch Evidenz, die gegen die Theorie spricht.
Menschen, die einer Verschwörungstheorie anhängen, argumentieren auf so etwas meist mit einer Art infinitem Regress im Sinne von: Die Evidenz, die du vorbringst, ist Teil der Verschwörung. Sie verletzen mit ihrer Konstruktion Prinzipien, die wissenschaftlichem Arbeiten zugrunde liegen, oder auch einfache Regeln der Wahrscheinlichkeit, wie etwa „Hanlon's Razor“: „Never attribute to malice that which can be adequately explained by stupidity.“
„Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärbar ist.“
Natürlich ist es vorstellbar, dass die Corona-Pandemie noch nicht unter Kontrolle ist, weil die Regierungen die Menschen krank machen wollen, um etwa einen Impfstoff vertreiben zu können. Das wäre die „Boshaftigkeits-Erklärung“. Es könnte aber auch sein, dass die Regierungen nicht effizient genug (zusammen)arbeiten. Das ist die „Dummheits-Erklärung“. Wenn wir mal ehrlich sind, ist – insbesondere bei der derzeitigen amerikanischen Regierung unter Trump – die Annahme von Ineffizienz wesentlich naheliegender als ein ausgeklügelter Plan, der Tausende von Menschen involvieren würde. Das zweite Prinzip, das oft verletzt wird, ist der sogenannte „burden of proof“, die Beweislast für die Argumentierende bzw. den Argumentierenden. Im Englischen sagt man: „Extraordinary claims require extraordinary evidence.“ Wenn ich also eine absurde Theorie aufstelle, muss ich auch absurd gute Evidenz dafür vorbringen, ansonsten bleibt es eine ziemlich unhaltbare Aussage. Aber das tun die wenigstens Menschen, die einer Verschwörungstheorie anhängen. Das geht so weit, dass sie die Abwesenheit von Evidenz als Beweis ansehen, im Sinne von: Diese Verschwörung ist so gut, dass keine Evidenz ans Tageslicht kommt.
Wie ist dem beizukommen?
Unterscheiden muss man auf jeden Fall zwischen Hardlinern und Menschen, die schlichtweg verunsichert, aber in einem direkten Gespräch durchaus zugänglich sind. Ich würde behaupten, dass jeder Mensch – tagesformabhängig – mal die eine oder andere Verschwörungstheorie glaubt. Das ist nichts Pathologisches, sondern sehr normal. In der Regel relativiert sich das, wenn man noch einmal darüber nachdenkt oder gegenteilige Evidenz hört. Aber es gibt eben auch Extremisten, die solche Theorien nicht nur entwickeln, sondern auch versuchen, sie zu verbreiten und in den Medien zu platzieren. Unsere Forschung zeigt, dass es nicht reicht, so etwas einfach zu ignorieren, man muss dagegenhalten, sonst können die Theorien ihren schädlichen Einfluss weiter entfalten, etwa auf die Impfbereitschaft der Menschen.
Wie macht man das sinnvollerweise?
Es gibt im Prinzip zwei Wege. Der eine ist: korrekte Fakten kommunizieren. Das funktioniert unseren Studien zufolge gut. Der zweite Weg besteht darin, die rhetorischen Techniken zu hinterfragen. Wissenschaftsleugnende nutzen in der Regel fünf Techniken: Erstens werden falsche Expertinnen und Experten zitiert, also Personen, die zwar einen Doktortitel haben, aber auf einem ganz anderen Gebiet. Zweitens gibt es unmögliche Erwartungen, etwa dass eine Impfung zu 100 Prozent sicher sein muss – obwohl ja kein medizinisches Produkt hundertprozentig sicher ist. Zudem gibt es drittens eine gewisse Selektivität, indem z. B. einzelne Studien aus Metaanalysen herausgezogen werden. Viertens werden logische Fehler gemacht. Und fünftens werden Verschwörungstheorien zur Erklärung herangezogen. Das Gute an der Demaskierung dieser rhetorischen Techniken ist, dass sie über alle möglichen Inhaltsbereiche hinweg funktioniert: Impfen, Klimawandel, Evolution, Pandemie... Wenn man das einmal draufhat, kann man schnell identifizieren, was an einem vorgebrachten Argument komisch war und was die richtige Antwort wäre. Schriftlich ist das natürlich einfacher als in Live-Debatten, für die man ein gutes Training braucht und sehr fit sein muss.
Zumal die andere Seite sehr geübt ist …
Ja, denn wie Sie schon gesagt haben: Diese Menschen haben oft Gegenwind und sind entsprechend trainiert, mit ihm umzugehen. Sie sind meist rhetorisch bewandert, können schnell ausweichen und wissen, wie sie im Gespräch das Ruder an sich reißen. Glücklicherweise gibt es auf der Seite der Vernunftorientierten sehr kompetente Menschen, die unseren Ansatz erstaunlich schnell erfolgreich anwenden.
Inwiefern ist es kontraproduktiv, wenn die Medien über Verschwörungstheorien oder auch die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen berichten? Denn eigentlich betrifft das ja nur eine kleine Gruppe von Menschen.
Ich hatte, wenn ich die Berichterstattung sah, in den vergangenen Wochen manchmal den Eindruck, dass die Hälfte der Bevölkerung völlig wahnsinnig ist. Das wird aber durch Daten nicht gestützt: Der Glaube an Verschwörungstheorien ist weiterhin relativ stabil niedrig.
„Wissenschaft im Dialog“ hat zudem in einer Umfrage gezeigt, dass das Vertrauen in die Wissenschaft über die Pandemie-Zeit sogar gestiegen ist. Das heißt, der Großteil der Menschen vertraut auf die Wissenschaft und agiert rational. Aber es ist natürlich Fokus der Medien, immer neue Dinge zu berichten, und Verschwörungstheorien und die Menschen, die daran glauben, sind nun mal interessant. Ich sehe da die Gefahr der „false balance“, der medialen Verzerrung, bei der dieser Minderheitsmeinung zu viel Gewicht gegeben wird. Und meine Befürchtung ist, dass durch diese falsche Gewichtung komische soziale Normen kommuniziert werden – als sei es etabliert, diesen Unsinn zu glauben. Für Menschen, die sehr verunsichert sind, kann das gefährlich sein.
Sehen Sie dabei auch eine bleibende Gefahr für die Gesundheit in der Gesellschaft, etwa weil sich impfskeptische Menschen noch mehr durchsetzen?
Es gibt Studien, die belegen, dass Verschwörungstheorien risikoreiches Verhalten in Bezug auf Aids erhöhen. Die Impfbereitschaft sinkt, die Skepsis gegenüber Erkenntnissen zum Klimawandel erhöht sich, politisches Engagement sinkt, prosoziales Verhalten nimmt ab… Also ja, man kann Verschwörungstheorien als eine große Gefahr sehen. Dennoch glaube ich, dass diese Gefahr nicht von der breiten Bevölkerung ausgeht, sondern von einflussreichen Einzelpersonen wie etwa Donald Trump, der den öffentlichen Dialog mit seinen Theorien vergiftet. Und diese Pandemie – das sogenannte „postfaktische Zeitalter“ – hat schon vor COVID-19 begonnen. Um dem entgegenzutreten, brauchen wir die Zusammenarbeit von allen Freunden der Weisheit, egal, ob aus Psychologie, Medizin oder Pädagogik. Und diese Herausforderung kann nur gemeistert werden, wenn wir als Disziplin neben der Wissenschaft auch die Wissenschaftskommunikation wahrnehmen und stärken.
Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen Report Psychologie, das Heft kann hier bestellt werden: https://www.psychologenverlag.de/Produkte/dCatID/6/pid/772/backLink/