Stellungnahme zur S3-Behandlungsleitlinie Schizophrenie
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Beteiligung am o.g. Leitlinienprozess. Leider können wir dem vorliegenden Entwurf in dieser Form nicht zustimmen. Der Bereich Psychotherapie wird hier nicht angemessen repräsentiert. Angesichts des dynamischen Zusammenwirkens verschiedener Faktoren und therapeutischer Ansätze in der aktuellen Behandlungsrealität (bio-psycho-soziales Modell) ist festzustellen, dass die Leitlinie hinter dem vorhandenen Praxiswissen bezüglich der Kombination medikamentöser und psychotherapeutischer Strategien zurückbleibt. Dies mag zwar mit unterschiedlichen Evidenzniveaus der Forschungsergebnisse in beiden Bereichen begründet werden, die Konsequenzen daraus müssten unseres Erachtens jedoch anders gezogen werden. Wenn ein wesentlicher Teilbereich der Behandlung, wie es das psychotherapeutische Herangehen darstellt, nicht seiner Bedeutung entsprechend aufgenommen wird bzw. werden kann, ist der Konsens zur Behandlung auf dem S3 Niveau nicht herstellbar. Konsequent wäre es daher, den Leitlinienentwurf zurückzuziehen. Inwiefern die Alternative, unten genannter Mängel in der Leitlinie zu beheben und die entsprechenden Lücken mit der Forderung nach weiterer Forschung perspektivisch zu schließen, dem angestrebten hohen Evidenzniveau Genüge tun kann, ist aus unserer Sicht noch offen.
Konkret richtet sich unsere Kritik insbesondere auf folgende Punkte:
Aus psychologisch/psychotherapeutischer Sicht legen wir bei der Darstellung der Ursachen schizophrener Erkrankungen (S. 29 f) Wert darauf, dass der Begriff der "Vulnerabilität" nicht nur auf eine genetische Disposition bezogen wird, sondern in gleicher Weise auch auf Faktoren in der frühkindlichen Entwicklung. Wir stützen uns hier insbesondere auf die Ergebnisse der Bindungsforschung und der damit zusammenhängenden neueren Ergebnisse der Neurowissenschaften (siehe zum Beispiel bei Grawe, Klaus: Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen 2004, hier insbesondere S.351 f). So fehlt beispielsweise unter den personengebundenen Vulnerabilitätsfaktoren der Punkt der hirnstrukturellen Veränderungen und damit zusammenhängenden Persönlichkeitsmerkmalen als Folge früher Bindungserfahrungen.
Allgemein ist eine mangelhafte Berücksichtigung der Psychotherapie in der Leitlinie festzustellen, die sich auch in der fehlenden Einbeziehung einer psychotherapeutischen Behandlung des familiären und sozialen Umfeldes (S. 40 ff) ausdrückt.
Das gesamte Kapitel 5 "Psychotherapeutische Interventionen" (Items 52-69) ist aus der Sicht unseres Verbandes in der vorliegenden Form nicht akzeptabel. Es legt einen allgemeinen Skeptizismus gegenüber psychotherapeutischer Verfahren nahe, setzt bisher fehlende Wirksamkeitsstudien mit Unwirksamkeit der Therapien gleich, und dies wird zum Anlass genommen, von Psychotherapien abzuraten - so speziell bezüglich "psychodynamischer oder psychoanalytischer" Therapien (Item 56 und 57). Auf andere, in der klinischen Praxis durchaus verbreitete Verfahren, namentlich die Systemische Therapie, wird überhaupt kein Bezug genommen (das Kapitel 5.7 über "Familieninterventionen" bzw. "Familienbetreuungsmaßnahmen" deckt diesen Bereich keineswegs ab). Die methodische Problematik in der Psychotherapieforschung allgemein und bei der Behandlung schizophrener Patienten im Besonderen wird nicht reflektiert, und diesbezüglich wurde auch kein direkter Kontakt mit den darauf spezialisierten Psychotherapie-Forschungsinstituten aufgenommen.
Im Einleitungstext zu Kap. 5.1 heißt es: "Voraussetzung für die Wirksamkeit psychologischer Therapien bei schizophrenen Erkrankungen ist eine positive therapeutische Beziehung". Hier werden die besonderen motivationalen Probleme schizophrener Patienten - Misstrauen und tiefsitzende Kontaktängste - übergangen bzw. aus dem Behandlungsansatz ausgeschlossen. Auch wird auf die unterschiedlichen Stadien im Krankheitsverlauf mit ihren besonderen Schwierigkeiten bzw. Chancen für die Behandlung kein Bezug genommen.
Wir begrüßen, dass mit der kognitiven Verhaltenstherapie wenigstens ein psychotherapeutisches Verfahren ausdrücklich empfohlen wird. Dies geschieht wegen der hier vorhandenen besseren Forschungslage, was jedoch nicht impliziert, dass die anderen Therapieverfahren unwirksam wären. Die Empfehlung wird weiterhin eingeschränkt auf den Fall, dass die medikamentöse Therapie versagt hat (Item 52 und 54). Hier gehen Randbedingungen der vorhandenen Studien unsachgemäß in die Behandlungsempfehlungen ein. Auf die Begrenztheit dieses Therapieansatzes (wegen der hohen motivationalen Voraussetzungen, was sich in hohen Drop-out-Raten widerspiegelt) wird nicht eingegangen. Ausdrücklich wird dagegen im Begleittext auf die Lückenhaftigkeit der Forschungsergebnisse hingewiesen. Damit wird aber das hohe Anspruchsniveau der Leitlinie in Frage gestellt.
Dass man angesichts der geschilderten Forschungslage auch zu einem anderen Resümee kommen kann, zeigen P. Fonagy und A. Roth, die in einem "Überblick über die Ergebnisforschung" hinsichtlich der Psychotherapie bei Schizophrenie ihre Befunde wie folgt zusammenfassen (Psychotherapeutenjournal 3/2004, S. 212 f): "Die Psychotherapieforschung zum Thema Schizophrenie hat sich bisher in einem recht engen Feld bewegt. Die Implementierung psychodynamischer Psychotherapie ist untersucht worden, doch gibt es bislang keine kontrollierten Studien, die ihre Effektivität in dieser Patientengruppe belegt hätten, und einigen Reviews zufolge ist sie stark kontraindiziert (Malmberg & Fenton, 2001; Hervorhebung d.U.; Malmberg & Fenton selbst äußern sich übrigens wesentlich vorsichtiger). In offenen Studien liegt eine gewisse Evidenz für die Effektivität von psychodynamischen Therapien vor (Gottdiener & Haslam, 2002). Behaviorale Ansätze wie ein Training sozialer Kompetenz scheinen dem Patienten im breiteren sozialen Kontext wenig zu nützen (Heinzen, Liebermann & Kopelowicz, 2000; Huxley, Rendall & Sederer, 2000). So vielversprechend die anderen psychotherapeutischen Ansätze (kognitive Verhaltenstherapie und kognitive Remediation) auch zu sein scheinen, die relativ hohen Ablehnungs- und Drop-out-Raten mahnen doch zur Vorsicht und legen nahe, diese Ansätze nicht als den einzigen Weg zu einer klinischen Lösung in Betracht zu ziehen. Für eine Steigerung der Akzeptanz sind weitere Studien mit verbesserten Techniken erforderlich." (Hervorhebung durch die Autoren.)
Wie oben bereits angedeutet, sehen wir auch die Ansätze der Familientherapie bzw. systemischen Therapie nicht angemessen berücksichtigt.
Die Behandlung des Themas psychotherapeutische Behandlung bei schizophrenen Erkrankungen im vorliegenden Leitlinien-Entwurf ist somit insgesamt nicht sachgemäß und wird dem heutigen Grundkonsens eines "bio-psycho-sozialen Modells" der Erkrankung bzw. der Behandlung nicht gerecht (obwohl dieses in Kapitel 5.1 ausdrücklich zitiert wird). Hier ist ein theoretischer Widerspruch in der aktuellen Fassung der Leitlinie angelegt, der gegen ein S3 Niveau spricht. Die angemessene Konsequenz aus dem sicher unbefriedigenden Stand der Forschung wäre eine zunächst wertungsfreie Darstellung aller wesentlichen heute praktizierten Formen der Psychotherapie bei Schizophrenie, sodann der Rapport über die vorhandenen Forschungsergebnisse, verbunden mit dem Hinweis auf den hier zu verzeichnenden Mangel, und die Einforderung intensiverer Forschungsbemühungen - die ja bekanntermaßen in einem krassen Missverhältnis zum Forschungsvolumen in der Psychopharmakabehandlung stehen.
Dipl.-Psych. Martin Urban
Sektion Klinische Psychologie
Sprecher der Fachgruppe Klinische Psychologie in der Psychiatrie