„Die Verknüpfung von gewalttätigem Verhalten und positiven Gefühlen ist problematisch“
Es wird geschossen und geprügelt, erstochen und weggesprengt. Jugendliche scheinen vor dem Rechner kollektiv die Magazine ihrer virtuellen Sturmgewehre leer zu schießen. Währenddessen wirkt es so, als interessiere sich die Öffentlichkeit für diese Obsession nicht weiter. Shooter-Spiele wie „Fortnite“ werden von Millionen Menschen gespielt, oft sind es Kinder. Das Spiel wurde von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) ab zwölf Jahren freigegeben. Natürlich ist »Epic Games«, der Anbieter von „Fortnite“, Mitglied der USK.
Jugendliche spielen durchschnittlich zwölf Stunden in der Woche; Spielzeiten von über fünf Stunden täglich sind längst keine Besonderheit mehr. Das ist unglaublich viel Zeit, die mit dem Erschießen von anderen Charakteren verbracht wird, setzen die erfolgreichsten Spiele doch alle auf Gewalt. Was richten diese Gewaltdarstellungen in den Köpfen der Kinder und Jugendlichen an?
Zu diesem Thema sprach Tim-Can Werning mit Prof. Dr. Barbara Krahé, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Potsdam, Preisträgerin des Deutschen Psychologie Preises, Präsidentin der International Society for Research on Aggression und außerdem Expertin für Forschung zu Aggression im Zusammenhang mit gewalthaltigen Videospielen.
Der „Medienstudie“ des Medienpädagogischen Forschungsverbandes Südwest zufolge spielen etwa 63 Prozent der Jugendlichen mehrmals wöchentlich Videospiele (JIM-Studie, 2019). 2010 lag der Wert noch bei 35 Prozent. Finden Sie diese Entwicklung bedenklich?
Grundsätzlich finde ich die allgemeine Entwicklung im Konsum von Videospielen nicht bedenklich. Die Nutzung von elektronischen Medien nimmt insgesamt zu, die Verfügbarkeit etwa von Smartphones hat diese Entwicklung natürlich begünstigt. Bedenklich wird es, wenn die Inhalte nicht stimmen und wenn die Jugendlichen so intensiv Videospiele nutzen, dass keine Zeit mehr für andere Dinge bleibt.
Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Einfluss von Gewaltinhalten in Videospielen auf das Verhalten Jugendlicher. Wieso zeigen Jugendliche erhöhte Aggression, nachdem sie diese Videospiele gespielt haben?
Hierzu gibt es eine Reihe von bewährten psychologischen Theorien, die zur Erklärung des Effekts dienen können und unterschiedliche Aspekte in den Blickpunkt rücken.
Erstens kann man den Effekt anhand der sozialen Lerntheorie erklären: Was die Jugendlichen sehen und mit den Spielfiguren erleben, sind demnach Lernerfahrungen. So erfahren sie etwa, dass man in Shooter-Spielen vorankommt, wenn man andere erschießt oder auf anderem Wege umbringt. Durch den Fortschritt empfinden sie positive Gefühle des Erfolgs und verknüpfen diese mit der Anwendung von Gewalt.
Zweitens werden aggressive Kognitionen leichter abruf- bar: Beim Spielen von gewalthaltigen Videospielen wer- den gewaltbezogene Gedanken generiert. Je öfter diese Kognitionen aktiviert werden, desto schneller werden sie im realen Leben abgerufen.
Ein weiterer Mechanismus ist die Desensibilisierung, also eine Gewöhnung an die Gewalt. Je öfter man Ge- walt am Bildschirm erlebt, desto schwächer fällt die Abscheureaktion im realen Leben aus, womit die Schwelle für aggressives Verhalten gesenkt wird.
Kann man diesen Effekten vorbeugen?
Ja, auf jeden Fall! Vor allem sollte man die „Dosis“ begrenzen. Es ist weder realistisch noch erstrebenswert, Kinder komplett ohne Kontakt zu neuen Medien groß werden zu lassen. Wenn sie Kontakt zum Medium der Videospiele haben, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mit Gewaltinhalten in Berührung kommen.
Bei der Begrenzung des Zugangs zu gewalthaltigen Videospielen könnte noch mehr getan werden. Es gibt zwar die Alterskennzeichnung der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle, aber dabei wird mehr auf die Differenzierungsfähigkeit zwischen Spiel und realer Welt gesetzt als auf den Gewaltgehalt.
Außerdem ist es wichtig zu verstehen, warum vor allem männliche Jugendliche von gewalthaltigen Videospielen so stark angezogen werden. Durch die Spiele könnten etwa Minderwertigkeitsgefühle abgearbeitet oder Gewaltfantasien ausgelebt werden, für die sich die zumeist männlichen Spielcharaktere als Identifikationsfiguren anbieten. Wenn man erkennt, dass dies die Motivation ist, kann man ihren Ursachen nachgehen.
Während der Einfluss von Medieninhalten, der sich nicht auf Gewaltdarstellung, sondern auf andere delinquente Verhaltensweisen bezieht (z. B. Videospiele mit Prostitution), allgemein akzeptiert wird, scheint der Widerstand gerade bei der Frage zum Einfluss von Gewalt in den Medien stärker zu sein. Haben Sie dazu eine Erklärung?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt, der in der Tat schwer nachvollziehbar ist. Dieselben Kritiker, die strikt zurück- weisen, dass Videospiele mit Gewaltinhalten aggressiver machen, werden nicht müde, die vielen positiven Effekte des Medienkonsums hervorzuheben. Dabei übersehen sie, dass die Wirkmechanismen die gleichen sind, auch wenn sich die Inhalte unterscheiden. Es geht grundsätzlich um die Frage, ob ein Transfer aus der virtuellen Realität auf das Verhalten im realen Leben stattfindet. In vielen Bereichen wird das fraglos angenommen, z. B. in der Produktwerbung. Warum dieser Transfer ausgerechnet bei Gewaltinhalten außer Kraft gesetzt sein soll, können diese Kritiker nicht schlüssig begründen.
Für die Leugnung der aggressionsfördernden Wirkung von Mediengewalt gibt es aus meiner Sicht vor allem zwei Gründe: Erstens liegt es im Interesse der Video- spiel-Community anzuzweifeln, dass ihre Lieblingsbeschäftigung sie aggressiver macht, denn ihre Mitglieder sehen das Spielen als einen Teil ihrer Identität an, die sie schützen wollen. Natürlich begehen die allermeisten keine Mord- und Totschlagsdelikte, das würden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vernünftigerweise auch nicht behaupten. Es geht vielmehr um die Steigerung von Aggressionen in Alltagssituationen, etwa das Mobbing einer Mitschülerin oder das Schlagen eines Mitschülers. In der Forschung untersuchen wir vor allem den Einfluss von Mediengewalt auf diese alltäglichen Formen der Aggression. Schwere Gewaltdelikte sind selten und haben vielfältige Ursachen. Hier ist der Erklärungsbeitrag der Nutzung gewalthaltiger Medien nach den vorliegenden Forschungsergebnissen geringer als bei alltäglichen Formen von Aggression.
Zweitens hat auch die Medienindustrie ein Interesse an der Diskreditierung der Befunde zur aggressions- fördernden Wirkung von Mediengewalt, da sie sehr profitabel von den Verkäufen gewalthaltiger Video- spiele lebt. Das ist ein bisschen wie bei der Zigarettenindustrie, die aus wohlverstandenem Eigeninteresse die Forschungsbefunde anzweifelt, die belegen, dass Rauchen Lungenkrebs erzeugt.
Wenn man die Forschung zu Aggression und Videospielen etwas verfolgt, bekommt man das Gefühl, dass es in der Forschungs-Community zwei Lager gibt: auf der einen Seite die, die sagen, dass gewalttätige Inhalte in Videospielen zu erhöhter Aggression führen (z. B. Anderson & Bushman), und auf der anderen Seite die, die diese Effekte als nicht bedeutsam darstellen (z. B. Ferguson). Jede Seite legt kontinuierlich Ergebnisse vor, die zu den eigenen Grundannahmen passen. Können Sie diese Diskrepanz einordnen?
Diese beiden Lager gibt es in der Tat, und ich ordne mich klar der Position zu, die von der aggressionsfördernden Wirkung von Mediengewalt ausgeht. Bemerkenswert ist, dass der Streit in diesem Feld der Forschung weniger um die Ergebnisse selbst geführt wird als um ihre Interpretation. Die berichteten Zusammenhänge und Effekte in den Veröffentlichungen beider Gruppen liegen sehr nah beieinander, nur die Schlüsse, die daraus gezogen werden, sind andere.
Es wird nicht selten unterstellt, dass diejenigen, die eine aggressionsfördernde Wirkung von Mediengewalt annehmen, jeden Spieler von gewalthaltigen Videospielen als „Amokläufer im Wartestand“ betrachten würden. Das ist eine völlig verzerrte Darstellung. Es geht in der Forschung um den spezifischen Beitrag, den gewalthaltige Videospiele zur Erklärung von individuellen Unterschieden im aggressiven Verhalten leisten können. Dieser Beitrag ist eher klein, wir sprechen hier von Effektstärken zwischen .20 und .30. Aber die Beiträge anderer Risikofaktoren wie elterlicher Gewalt oder Gewalt in der Wohnumgebung sind auch nicht größer. Aggression ist ein komplexes Verhalten, und jeder einzelne Risikofaktor erklärt nur einen kleinen Teil der Varianz im Verhalten. Auch wenn die Effektstärken eher im unteren Bereich liegen, sind sie praktisch bedeutsam, wenn man die weite Verbreitung und intensive Nutzung von Gewaltmedien auf der ganzen Welt bedenkt.
Unterscheidet sich die Darstellung von realistischer Gewalt von „Cartoon-Gewalt“?
Natürlich wäre es naheliegend, dass die Effekte stärker sind, je realistischer die Gewalt dargestellt wird. Es gibt aber leider nur wenige Studien, die das systematisch verglichen haben. Das Problem ist primär, dass sich verschiedene Spiele in vielen Aspekten unterscheiden – und nicht nur im Realismus. Deshalb ist es schwer, eindeutige Belege zu finden, dass das Ausmaß des Realismus einen bedeutenden Einfluss hat.
Es gibt jedoch einige Befunde, die zumindest darauf hindeuten, dass es bei realistischen Videospielen stärkere Effekte gibt. Das wäre theoretisch auch nicht überraschend, denn der Transfer in den Alltag fällt dann leichter. Das heißt aber nicht, dass die verfremdeten Formen der Aggression keinen Effekt haben. Bestimmte Merkmale, etwa das Töten eines gegnerischen Charakters, führen auch dann zu Effekten, wenn diese Figuren nicht so aussehen wie echte Menschen, etwa weil im Spiel aggressionsbezogene Gedanken aktiviert werden.
Einige Shooter-Spiele, in denen es um die Eliminierung von gegnerischen Charakteren geht, sind laut USK-Einstufung ab zwölf Jahren freigegeben. Halten Sie diese Einstufung für korrekt oder für zu liberal?
Es gibt hierzu eine interessante Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, für die die Forscherinnen und Forscher eine große Anzahl von Spielen mehrfach gespielt und im Anschluss überprüft haben, ob sie die Alterseinschätzung der USK für gerechtfertigt halten. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Altersfrei- gaben in vielen Fällen zu niedrig angesetzt wurden. Das bedeutet, dass den Kindern nach Einschätzung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu viel Gewalt für ihr Alter erlaubt wird. Eltern sollten also vorsichtig sein und sich über die Altersfreigabe hinaus über die Inhalte der Spiele informieren, die ihre Kinder spielen.
Was lernen Zwölfjährige, die Gewaltdarstellungen in Videospielen beobachten?
Sie lernen vor allem, Gewalt mit Erfolg und einem guten Gefühl zu verknüpfen. Je mehr von den gegnerischen Charakteren die Spielenden außer Gefecht setzen, desto besser kommen sie im Spiel voran. Diese Verknüpfung von gewalttätigem Verhalten und positiven Gefühlen ist problematisch. Jugendliche erleben, dass gewalttätiges Verhalten einen Belohnungswert hat. Dadurch wird die Auftretenswahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten auch im Alltag heraufgesetzt.
Wie sieht der verantwortungsbewusste Konsum von diesen Videospielen Ihrer Meinung nach aus?
Ein kompetenter Umgang mit Videospielen fängt bei der Zeiteinteilung an. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass das Spielen nicht den gesamten Tag einnimmt, sondern dass noch Zeit für andere Interessen bleibt. Außerdem heißt Medienkompetenz auch, dass Jugendliche über die Wirkungsweisen und Mechanismen von Gewaltdarstellung Bescheid wissen.
Wir haben zur Förderung der Kompetenz im Umgang mit Mediengewalt ein Interventionsprogramm für Jugendliche entwickelt, das auf zwei Ziele ausgerichtet ist: Erstens soll der Konsum gewalthaltiger Medien reduziert werden, und zweitens soll ein Verständnis für die psychologischen Prozesse vermittelt werden, über die sich der Konsum von Mediengewalt auf aggressive Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen auswirkt. Das Programm haben wir auf der Basis des theoretischen Erkenntnisstands der Forschung entwickelt und in einem experimentellen Design im Längsschnitt mit einer großen Stichprobe von Jugendlichen evaluiert. Dabei konnten wir zeigen, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Interventionsgruppe noch drei Jahre später einen geringeren Konsum von Mediengewalt berichteten und zwei Jahre später geringere Aggressionswerte aufwiesen als die Jugendlichen in der Kontrollgruppe. Hervorzuheben ist, dass es in dem Programm speziell um die Verringerung des Konsums gewalthaltiger Medien geht, nicht um eine Reduktion des Medienkonsums generell.
Sehen Sie auch die Schulen in der Verantwortung?
Ja, aber nicht ausschließlich. Dadurch, dass ein Thema zum Gegenstand des Schulunterrichts gemacht wird, läuft man Gefahr, eine gewisse Entfremdung herzustellen. Hier sind innovative pädagogische Konzepte zu entwickeln, die die Jugendlichen in der Rolle als Expertinnen und Experten ihres eigenen Medienkonsums ansprechen. Noch stärker sind aber die Familien gefragt. Dazu gehört vor allem, dass Eltern sich für die Mediennutzung ihrer Kinder – sowohl bezüglich der Intensität als auch bezüglich der Inhalte – zuständig fühlen und sich kundig machen.
Was würden Sie Eltern raten, deren Kinder in das Alter kommen, in dem sie Videospiele mit Gewaltinhalten spielen möchten?
Eltern sollten darauf achten, welche Videospiele ihre Kinder spielen, und sich diese vor allem im Hinblick auf den Gewaltinhalt selbst anschauen. Dann sollten sie klare Regeln in Bezug auf die Inhalte und die zeitliche Dauer des Medienkonsums mit ihren Kindern verein- baren und diese auch durchsetzen. Pragmatisch gesprochen halte ich es weder für realistisch noch für notwendig, auf eine „Nulldiät“ abzuzielen. Diese Spiele sind Gesprächsgegenstand in der Gleichaltrigengruppe, und bei einem strikten Verbot wären Jugendliche aus diesen Gesprächen ausgeschlossen. Aber der Konsum von gewalthaltigen Medien sollte sich in einem geringfügigen Rahmen bewegen. Gerade weil Medien im Allgemeinen und Videospiele im Besonderen viele positive Lerngelegenheiten bieten, sollte das reichhaltige Angebot, das sie an gewaltfreier Unterhaltung und prosozialen Inhalten bereitstellen, klar im Vordergrund stehen.
Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben!
Sehr gerne!
Das Gespräch führte Tim-Can Werning
Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen Report Psychologie, das Heft kann hier bestellt werden: https://www.psychologenverlag.de/Produkte/dCatID/156/pid/784/backLink/