Einblicke in die Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastung
Die Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung ist eine arbeitsschutzgesetzliche Pflicht. Nichtsdestotrotz tun sich viele Unternehmen noch schwer damit, die psychische Belastung in der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen. Im Interview erklärt Ivon Ames (Mitglied des Vorstandes der Sektion Wirtschaftspsychologie) u. a. welche Rolle Psychologinnen und Psychologen in der Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastung einnehmen.
Ivon Ames
(Foto: privat)
Was können Psychologinnen und Psychologen bei der Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastung leisten?
Ivon Ames: Die Arbeits- und Organisationspsychologie hat eine lange Forschungstradition innerhalb der Psychologie. Die Bedeutung von Arbeitsbedingungen für das Wohlbefinden, Arbeitsengagement und letztlich die psychische Gesundheit von Beschäftigten ist gut beforscht und empirisch belegt. Psycholog*innen haben hier die wichtigen Fachkenntnisse über die Kriterien und Wirkmechanismen der Gestaltung der Arbeitsbedingungen – und genau darum geht es in der Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastung.
Wir schauen uns die objektiven Arbeitsbedingungen an, die auf die Mitarbeitenden wirken. Dabei geht es zum einen um die Ermittlung aber eben auch die Beurteilung, ab wann eine Belastung oder Belastungsmuster kritische Bereiche erreichen. Neben den Arbeitsanforderungen als empirische Belastungen muss man sich zum anderen die Ressourcen des Unternehmens ansehen. Und ganz wichtig: damit hört das Ganze natürlich nicht auf, erst danach kommt der entscheidende Punkt, dass Maßnahmen abgeleitet werden und diese auch am Ende wirksam umgesetzt werden. Als externe Expert*innen haben sie eine neutrale Position, da sie nicht in die Hierarchien des Unternehmens eingebunden sind. So werden sie meist besser akzeptiert und die Mitarbeitenden können mit ihnen offener kommunizieren.
Wie können Psycholog*innen konkret unterstützen? Gibt es z.B. eine Standard-Gefährdungsbeurteilung?
Ivon Ames: Nein, eine Standard-Gefährdungsbeurteilung gibt es nicht. Psycholog*innen können die Gefährdungsbeurteilung ganz individuell auf das Unternehmen zuschneiden und nehmen dabei ganz unterschiedliche Rollen im Prozess ein. Sie kennen sich aus im Dschungel der Analysemethoden und Ratgeber und wählen die geeignete Methode für das jeweilige Unternehmen oder Team aus. Die Beurteilung und Identifizierung von kritischen Bereichen erfordern fachpsychologische Kenntnisse über die Wirkmechanismen von Arbeitsbedingungen und deren Auswirkungen auf die Gesundheit. Am Ende kann auch nur so sichergestellt werden, dass die umgesetzten Maßnahmen auch wirklich realistisch sind und genau die Wirkmechanismen beeinflussen, die sie beeinflussen möchten. Die Begleitung durch Psycholog*innen erhöht übrigens auch die Rechtssicherheit, dass die Gefährdungsbeurteilung auch für den Bereich psychischer Belastung vollständig und fachlich angemessen durchgeführt wird. Es gibt allerdings keine Blaupause, die wir quasi über jedes Unternehmen drüber stülpen können. Man muss z. B. sehen, welche Belastungen in dem Unternehmen überhaupt veränderbar sind.
Was sind denn eigentlich Belastungsfaktoren?
Ivon Ames: Oft wird von den Beschäftigten der hohe Zeitdruck genannt, aber auch häufige Arbeitsunterbrechungen, unklare Rollenverteilungen oder Informationsmangel. In der Gefährdungsbeurteilung erheben wir aber z. B auch die Kommunikation und die soziale Unterstützung durch Kolleg*innen und Vorgesetzte. Wir fragen uns, wie ist der Handlungsspielraum der Mitarbeitenden? Das wären einige Beispiele, um das Ganze etwas fassbarer zu machen. Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstragegie (GDA) hat 16 Belastungsfaktoren definiert, die empirisch gut gesichert sind. Diese schauen wir uns genau an.
Ziel ist es, gesunde Arbeit zu schaffen. Was braucht es dazu?
Ivon Ames: Ich finde es besonders wichtig, dass das Bewusstsein da ist, dass alle Arbeitsbedingungen direkt auf die Mitarbeitenden einwirken, also nicht nur die sichtbaren. Wenn Arbeitsbedingungen zu laut, zu kalt zu schwer sind, dann ist uns allen sofort klar, dass das auf Dauer nicht gesund sein kann. Psychische Belastungen begegnen uns dabei nicht so direkt, sie sind nicht so sichtbar – wirken aber genauso auf die Gesundheit der Beschäftigten. Und gesunde Arbeit bedeutet nicht die Eliminierung sämtlicher Belastungen – das wäre völlig kontraproduktiv, denn Belastungen haben auch viele positive Funktionen – wichtig ist die optimale Balance zwischen Arbeitsanforderung und Ressourcen. Diese Balance sieht für jedes Unternehmen ganz anders aus. Sehen wir uns etwa das Thema Lärmbelastung an: im Büro können beispielsweise schallisolierende Raumteiler installiert oder verschiedene Zonen eingerichtet werden. Eine Lärmbelastung im Kindergarten hingegen ist nicht ohne weiteres veränderbar – auch hier kann der Lärmpegel durch Raumkonzepte in den Betreuungsräumen etwas minimiert, jedoch nicht gänzlich verhindert werden. In solch einem Fall müssen andere, veränderbare Arbeitsbedingungen optimiert und geschaut werden, welche Ressourcen die Mitarbeitenden unterstützen können, damit besser umzugehen: z. B. mithilfe von Ruheräumen für die Pausen, in die sich Beschäftigte zurückziehen können. Oder durch eine bessere Unterstützung durch Kolleg*innen und Vorgesetze.
Werden Arbeitsbedingungen nicht von jedem Mitarbeitenden anderes erlebt?
Ivon Ames: Natürlich ist es auch von den individuellen Ressourcen des einzelnen abhängig, wie Arbeitsbedingungen erlebt und bewertet werden. Aber wir wissen aus der Forschung, dass die Belastungsfaktoren, die in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu negativen Auswirkungen führen können. Das kann man sich ganz einfach verbildlichen: Wenn man ein zehn Kilo schweres Paket als Belastung nimmt, das schafft ein Großteil der Beschäftigten über kurze Zeit anzuheben. Wenn wir das Gewicht nun auf dreißig Kilo erhöhen, dann wird der Anteil der Beschäftigten, die dieses eine gewisse Zeit anheben können geringer. Und genauso ist es auch mit der psychischen Belastung.
Was hält Menschen psychisch stabil?
Ivon Ames: Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen betrachtet nur die objektiven Arbeitsbedingungen und setzt damit klar den Fokus auf die Verhältnisprävention. Diese sollte jedoch Hand in Hand gehen mit der Verhaltensprävention. Insbesondere in Zeiten, in denen die psychischen Belastungen in allen Lebensbereichen höher erscheinen, ist es wichtig, dass man auch einen Blick auf die persönlichen Schutzfaktoren wirft. Hier wäre Resilienz ein Beispiel. Resilienz wird aktuell sehr häufig genannt und wirkt damit vielleicht manchmal wie ein schöner Modebegriff, aber das wird dem nicht gerecht. Resilienz beschreibt genau diese Widerstandskraft, also unsere Fähigkeiten, Fertigkeiten und Ressourcen, die uns dabei helfen, in Belastungssituation schnell wieder in unser psychisches Gleichgewicht zurückzufinden. Das bedeutet nicht, dass man in stressigen Momenten keinerlei Beanspruchungsreaktion zeigt. Diese zeigt Jeder, das ist völlig normal. Wichtig ist nur, dass man sich dessen bewusst ist und erkennt, wie man wann reagiert und dass dieses eben nicht unseren Alltag völlig bestimmt. Die Bewertung einer Situation spielt dabei die entscheidende Rolle. Ein positiver Bewältigungsstil hängt von verschiedenen Faktoren ab. Unternehmen können Ihre Mitarbeitenden durch gezielte Trainingsmaßnahmen, wie Stressbewältigungstrainings, dabei unterstützen, ihre internen Ressourcen aufzubauen. Aber auch externe Ressourcen, wie die Umgebungsfaktoren, spielen hier eine entscheidende Rolle. Die betriebliche Gesundheitsförderung mit Präventionsangebote für Beschäftige sollte also auch immer Hand in Hand mit der Gestaltung der Arbeitsbedingungen gehen, um den größten Nutzen zu erreichen.
Was können Unternehmen tun, um gute Arbeitsbedingungen zu schaffen?
Ivon Ames: Das A und O ist eine offene Wertschätzung, eine konstruktive Unternehmenskultur – Betriebe, die immer wieder ihre aktuellen Arbeitsbedingungen hinterfragen und diese gemeinsam mit den Führungskräften und Mitarbeitenden optimieren. Ohne die Partizipation passiert meist nichts, denn nur durch ihre Beteiligung, entsteht die Motivation Maßnahmen auch umzusetzen. Am Ende geht es um vertrauensvolle und kooperative Zusammenarbeit, die ja von allen abhängt. Insbesondere Führungskräfte verdienen eine besondere Aufmerksamkeit in diesem ganzen Prozess – denn sie sitzen oft zwischen den Stühlen. Auch sie sind Beschäftigte und damit den Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Aber sie spielen auch eine zentrale Rolle bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen für ihre Abteilung.
Was sollten Vorgesetzte besonders beachten?
Ivon Ames: Insbesondere Entscheidungsträgern sollte bewusst sein, dass alle Arbeitsbedingungen auf die Mitarbeitenden einwirken und, dass sich Arbeitsbedingungen stetig verändern – das sehen wir ja auch aktuell in der Pandemie. Und wenn wir in die Vergangenheit schauen, dann wurde sehr oft das Thema Monotonie als kritische Belastung genannt, z. B. bei der Arbeit in Fabriken. Das haben wir heute weniger, heute findet sich eher das Thema Arbeitsintensität – es kommt zu einer quantitativen und qualitativen Verdichtung von Arbeit. Mitarbeitende müssen vermehrt fachlich präzise und korrekte Ergebnisse unter zeitlichem Druck liefern. Das ist eine gang andere Belastung als Monotonie. Das erhöht das Stresslevel nachhaltig und damit auch die Wahrscheinlichkeit für negative gesundheitliche Auswirkungen. Die Gefährdungsbeurteilung setzt genau hier an.
Welchen Nutzen haben Unternehmen von der Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastungen?
Ivon Ames: Zum einen führen psychische Fehlbelastungen zu einer Störung des betrieblichen Ablaufs und den Arbeitsprozessen. Das heißt im Umkehrschluss, dass, wenn wir es schaffen, die Arbeitsprozesse zu optimieren, führt das zu einer erhöhten Motivation, aber auch zu engagierten, gesünderen Mitarbeitenden. Das hört sich erst einmal sehr plakativ und visionär an – aber im Grunde zeigt es sich am Ende auch in „knallharten“ betrieblichen Kennzahlen: die Fehlzeitenquote ist geringer, es gibt eine geringere Fluktuation, die Produktivität geht hoch und letztendlich ist auch die Bindung an das Unternehmen für die Mitarbeitenden größer. Es ist eigentlich eine klassische Win-Win-Situation.
Warum wird die Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastungen nicht flächendeckend umgesetzt?
Ivon Ames: Hier sind die Gründe sehr vielfältig – mein Gefühl ist, dass ein Mangel an Informationen herrscht bei gleichzeitiger Informationsflut. Man merkt häufig, dass die Informationen in den Unternehmen häufig fehlen, dass auch die psychische Belastung eine wichtige Säule im Gesamtprozess der Gefährdungsbeurteilung ist. Wenn dieses Bewusstsein da ist, dann sind sich viele im Unklaren über die nächsten Schritte. Der Blick auf Arbeitsbedingungen und möglicherweise nötige Veränderungen von diesen, hört sich erst einmal ziemlich aufwendig an. Da können sich Unternehmen erst einmal überfordert fühlen und wenn sie dann zu recherchieren beginnen, stoßen sie auf eine Flut von Ratgebern und Erhebungsinstrumenten, die irgendwo publiziert sind – mit sehr heterogener Qualität. Eine professionelle Begleitung und Beratung kann hier die Unternehmen unterstützen.
Wie hat sich die Pandemie auf die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz ausgewirkt?
Ivon Ames: Die aktuelle Pandemie hat massive Auswirkungen auf unser gesamtes Leben und sie stellt Anforderungen an Unternehmen, die Führungskräfte und Beschäftigte noch nicht kennen aus ihren Tätigkeiten, aus ihrem gewohnten Arbeitsumfeld. Zu den bereits vor der Pandemie nicht optimalen Arbeitsanforderungen kommen dann noch neue hinzu: eine erhöhte Flexibilität, Arbeiten unter besonderen Bedingungen wie beispielsweise improvisiertes Homeoffice, entgrenzte Arbeitszeiten dadurch oder das ständige Tragen von Mund-Nasen-Schutz. Das sind Belastungen, die noch „on-top“ dazu kommen. Gerade jetzt ist es daher wichtig, genau hinzuschauen. Insbesondere in Zeiten, die eine hohe Veränderungsbereitschaft von allen erfordern, offenbaren sich durch den geschärften Blick etablierte Unternehmenskulturen. Darin stecken auch Chancen: einerseits werden Bereiche deutlich sichtbar, die nicht optimal laufen, auf der anderen Seite werden Ressourcen sichtbar, wie zum Beispiel die Unterstützung durch Kolleg*innen oder der kreative Umgang mit besonderen Situationen.
Ist es möglich, eine Gefährdungsbeurteilung Psychischer Belastungen in der Pandemie durchzuführen?
Ivon Ames: In solchen Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, ist auch eine Veränderungsbereitschaft da, im Grunde könnte der Zeitpunkt nicht optimaler sein, sich jetzt die Arbeitsbedingungen ganz genau anzuschauen. Wichtig wäre zu erwähnen, dass auch unter Pandemie-Bedingungen und Einschränkungen die Beurteilung der psychischen Belastung durchaus möglich ist. Wir haben viel gelernt im letzten Jahr und eine sehr wichtige Erkenntnis ist, dass man sagen kann, Online-Lösungen funktionieren. Wir können über Workshops und viele andere Online-Varianten die Bewertung und Beurteilung von Arbeitsbedingungen durchführen. Wichtig ist nur, dass die Methoden, die man anwendet, die Belastungsfaktoren vollumfänglich abbilden und auch so wichtige Bereiche wie entgrenzte Arbeit, Homeoffice und all diese Belastungen, die jetzt akut eine Rolle spielen, eben auch zusätzlich mitberücksichtigt werden.
Wo finden Unternehmen Unterstützung?
Der BDP stellt auf seiner Webseite einige Broschüren zum Thema „Gesunde Arbeit“ zur Verfügung: – darunter findet sich auch Informationen zur Gefährdungsbeurteilung - Psychische Belastung bei der Arbeit sowie zu Gesunde Arbeitsbedingungen - Was Unternehmen tun können. Zudem können geeignete Psychologinnen und Psychologen über das Psychologenportal gefunden werden.
Das Gespräch führte Louisa Tomayer.