"BDP im Gespräch" zum Weltkindertag 2022

30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland
Höchste Zeit für starke Kinderrechte

Anlässlich des Weltkindertages sprach BDP-Präsidentin Dr. Meltem Avci-Werning mit Dr. Sebastian Sedlmayr, Abteilungsleiter Advocacy und Politik des Deutschen Komitees für UNICEF, zu den Auswirkungen der multiplen Krisen unserer Zeit auf Kinder und Jugendliche sowie über Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten von Organisationen wie dem BDP oder UNICEF, den negativen Folgen entgegenzuwirken.

Dr. Meltem Avci-Werning:
 Es ist 30 Jahre her, dass die Bundesregierung die Ratifizierungsurkunde für das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes“, also die UN-Kinderrechtskonvention, hinterlegt hat. Die Konvention wurde damals in den Industrieländern eher als Unterstützung der Kinder in Entwicklungsländern verstanden. Die Sichtweise, dass auch Kinder in den westlichen Nationen diese Rechte haben, hat sich erst später durchgesetzt. Heute ist sie unumstritten.

Dr. Sebastian Sedlmayr: Trotzdem findet die Konvention beispielsweise im deutschen Rechtswesen wenig Anwendung und es wird in Deutschland seit vielen Jahren über die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz diskutiert. Wenn über Kinderrechte gesprochen wird, denken viele allein an das Kinder- und Jugendhilfegesetz. In der Tat besteht so etwas wie eine Verwechslungsgefahr – denn das KJHG wurde 1990, also zur selben Zeit wie die UNKRK verabschiedet und im Wortlaut sind viele Anleihen an die völkerrechtliche Vereinbarung zu erkennen. Nur geht die UNKRK eben sehr viel weiter als das KJHG. Sie ist ein Katalog von Rechten für Menschen unter 18 Jahren in praktisch allen Lebenslagen. Und sie legt fest, dass die Vertragsstaaten die Rechte von Kindern vorrangig gewichten müssen, in allen Rechtsbereichen, die Kinder betreffen. Aus der Sicht von UNICEF ist während der Corona-Pandemie vieles für Kinder, Jugendliche und Familien deshalb schiefgelaufen, weil die Kinderrechte bisher nicht ausdrücklich im Grundgesetz stehen.

Dr. Meltem Avci-Werning: Der BDP schließt sich dieser Wahrnehmung an. Regelmäßig macht der Verband in Stellungnahmen und Pressemitteilungen auf die Notwendigkeit der Einbeziehung von Kinderrechten in einer Zeit der multiplen Krisen aufmerksam und formuliert Handlungsempfehlungen an die Politik. Neben den schwerwiegenden Folgen der Pandemie auf die Bildung und die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, dürfen auch die Auswirkungen des Klimawandels und des Ukrainekriegs auf Kinderrechte nicht unerwähnt bleiben.

Dr. Sebastian Sedlmayr: Erst Anfang September hat sich der bei den Vereinten Nationen eingesetzte UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes mit Deutschland befasst. UNICEF sitzt bei den so genannten Staatendialogen mit im Raum und unterstützt den Ausschuss dabei, die Situation in den jeweiligen Ländern korrekt einzuschätzen. Anfang Oktober wird der Ausschuss dann die „Abschließenden Bemerkungen“ mit Hinweisen und Empfehlungen an die deutsche Regierung veröffentlichen, wo noch nachzubessern ist. UNICEF rechnet mit einer Liste dringlicher Aufforderungen zur besseren gesetzlichen und strukturellen Verankerung der Kinderrechte, zur Bekämpfung der Kinderarmut und zum Schutz von Kindern vor Gewalt, insbesondere vor sexualisierter Gewalt. Anders als bei der letzten Verhandlung vor acht Jahren wird wahrscheinlich auch das Thema der mentalen bzw. psychischen Gesundheit als eigenes Problemfeld benannt. Die Daten zur psychischen Verfasstheit von Jugendlichen in Deutschland waren schon vor Covid-19 im internationalen Vergleich alarmierend. Nun erleben wir zusätzlich einen massiven Anstieg von Belastungen und Störungen.

Dr. Meltem Avci-Werning: Kinder und Jugendliche mussten einen erheblichen Anteil der Konsequenzen aus der Covid-19-Pandemie schultern. Ihr Leben wurde stark eingeschränkt. Über Monate waren die Schulen geschlossen, der Kontakt zu Gleichaltrigen faktisch unmöglich. Für Kinder und Jugendliche stand das öffentliche Leben still. Kinderrechts- und Kinderschutzorganisationen wie UNICEF und Verbände wie der BDP haben früh vor den Folgen gewarnt. Doch weder am Kabinettstisch noch in den Staatskanzleien der Länder oder den kommunalen Behörden wurden die Interessen von Kindern und Jugendlichen – wie es die Kinderrechtskonvention vorsieht – vorrangig berücksichtigt. Auch gab es kaum eine Möglichkeit, diese Interessen überhaupt zu artikulieren.

Dr. Sebastian Sedlmayr: Für viele junge Menschen war der Umgang von Politik und Behörden mit ihnen eine große Enttäuschung. So gab es beispielsweise viele Gipfel im Kanzleramt zu Themen wie Integration, Energie oder Autos, aber nie eine ähnliche Aufmerksamkeit für die Belange von Kindern und Jugendlichen. Nachdem die Covid-19-Pandemie zu Beginn des Jahres 2022 dann zumindest vorerst überwunden schien, die Schulen, Spielplätze, Schwimmbäder und Jugendzentren wieder offen waren und die Gesellschaft insgesamt sich danach sehnte einmal durchzuatmen und eine verloren gegangene Normalität zurückzuerobern, veränderten der Krieg gegen die Ukraine und die absehbaren wirtschaftlichen Folgen erneut „alles“ zum Negativen.

Dr. Meltem Avci-Werning: Nach den Einschränkungen durch Behörden folgen nun durch die Inflation und die finanzielle Ungewissheit Einschränkungen bei der Kaufkraft von Familien. Ausgebliebene Ausflüge, Feiern oder Urlaube treffen viele Kinder, auch der Mittelschicht. Solche Enttäuschungen mögen manche vielleicht als Luxusproblem qualifizieren. Aber das Phänomen der verlorenen Gelegenheiten von wichtigen Entwicklungsschritten geht tiefer und betrifft die Zukunftsaussichten einer ganzen Generation. Es stellt sich die Frage, wie das politisch bearbeitet werden kann.

Dr. Sebastian Sedlmayr: In der Sitzung in Genf hat die Bundesregierung unter anderem angekündigt, die interministerielle Arbeitsgruppe zu Kindergesundheit zwischen den Bundesgesundheits- und dem Bundesfamilienministerium weiterführen und verstärken zu wollen. Auch die bereits existierende Jugendstrategie der Bundesregierung soll fortgeführt und weiter institutionalisiert werden. Geplant ist ein Nationaler Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung. Bereits begonnen wurde der Nationale Aktionsplan Neue Chancen für Kinder in Deutschland, der Zugänge zu Bildung und Gesundheit für benachteiligte Gruppen verbessern soll. Hinzu kommt das Corona-Aufholpaket, das sinnvollerweise nicht nur Nachhilfeangebote für versäumten Schulstoff adressiert, sondern vor allem Bewegung, Begegnung und Freizeiterlebnisse mit anderen Kindern und Jugendlichen. Es muss allerdings viel zielgenauer ausgesteuert und erfolgreiche Angebote müssten verstetigt werden. Und es braucht langfristige Investitionen – in Lehrkräfte, frühkindliche Entwicklung und Bildung, Schulpsychologie, Schulsozialarbeit, um nur ein paar sehr zentrale Felder zu nennen.

Dr. Meltem Avci-Werning: Wie auch bei anderen Versuchen, sich solch komplexen Fragen zu stellen, wird die ressortübergreifende Zusammenarbeit über Gelingen oder Scheitern entscheiden. Die geteilte Verantwortung für die Rechte von Kindern und Jugendlichen ist das A und O einer wirksamen Kinderrechtspolitik. Wenn nun noch die Perspektive von Kindern und Jugendlichen mit einbezogen wird, bevor Entscheidungen getroffen sind, kommt der Geist der Kinderrechtskonvention zum Tragen.

Dr. Sebastian Sedlmayr: Die aktuelle Ampel-Koalition hat sich einiges vorgenommen, um den Kinderrechten in Deutschland mehr Geltung zu verschaffen. Für wesentliche Vorhaben benötigt sie aber die Mitarbeit der CDU/CSU sowie unionsgeführter Länder und Kommunen. Es ist für die Kinder zu hoffen, dass es den Verantwortlichen gelingt, Brücken über die Parteigrenzen hinweg zu bauen und im Interesse der Kinder zu handeln. Möglichkeiten gab und gibt es genug. Die Kinder von heute werden die erwachsenen Generationen auch daran messen, ob sie die Möglichkeiten ergriffen hat.

Dr. Meltem Avci-Werning: Daher ist es umso wichtiger, dass politisch unabhängige Organisationen wie UNICEF oder und Verbände wie der BDP die Belange von Kindern und Jugendlichen bei ihrer Arbeit stets mit im Blick behalten und Kooperationen bilden, um sich auf der politischen Bühne für Kinderrechte einzusetzen. Wir danken für die bisherige herausragende Zusammenarbeit, wie etwa innerhalb des Netzwerks Kinderrechte und freuen uns auf weitere gemeinsame Aktivitäten in Zukunft! Lieber Dr. Sedlmayr, ich danke Ihnen für das Gespräch.
 

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Psychologie und Gesundheit
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